Systemische Therapie ist eine Erfolgsgeschichte. Als einziges psychotherapeutisches Verfahren seit der Verhaltenstherapie hat sie es in Deutschland geschafft, sozialrechtlich anerkannt zu werden. Ihr Ansatz hat sich in viele angrenzende Bereiche ausgebreitet. Es gibt systemische Organisationsentwicklung, systemisches Coaching und systemische Supervision. Der systemische Ansatz wird in der Führungskräfteentwicklung ebenso eingesetzt wie in der Pädagogik. Damit ist die systemische Therapie, auch wenn sie als Kassenleistung derzeit noch ein (rasch wachsendes) Nischendasein fristet, erfolgreicher als praktisch alle konkurrierenden Ansätze. Die Zukunft ist systemisch.
Systemische Beliebigkeit?
Doch gerade der Boom wirft Fragen auf. Systemisch, so scheint es, ist heute fast alles mehr oder weniger. Jeder will systemisch sein, und der Begriff ist nicht geschützt. Von Toolboxen für die Weiterbildung von Führungskräften über Konzepte der Kleinkindpädagogik bis hin zur politischen Theorie beruft sich vieles auf Systemik. Der Begriff ist inflationär geworden.
Das gilt auch für die systemische Therapie im engeren Sinne. Es gibt inzwischen unzählige Ansätze, die in vielerlei Hinsicht kaum miteinander vereinbar scheinen: Emotionsfokussierte Therapie und mentalisierungsbasierte Ansätze, strukturelle Familientherapie und lösungsfokussierte Therapie, Hypnosystemik und Ego-State-Therapie. Hinzu kommt eine Schwemme von 'Therapie-Tools', die Änderung versprechen. „Was genau ist eigentlich systemisch?“ (Roesler, 2023).
Diese Frage ist berechtigt. Sie ist aber nicht einfach zu beantworten. Die systemische Therapie ist mittlerweile so vielfältig und teilweise widersprüchlich, dass man nicht von ‚der‘ systemischen Therapie sprechen kann. Die Systemische Therapie, die vor zehn Jahren sozialrechtlich anerkannt wurde - sie gibt es in vielerlei Hinsicht nicht!
Dennoch macht es Sinn, von ‚der‘ systemischen Therapie zu sprechen. Systemische Therapie hat nicht nur eine bestimmte Entwicklungsgeschichte. Sie zeichnet sich auch durch bestimmte theoretische Annahmen aus, die eine Klammer um die Vielfalt und scheinbare Widersprüchlichkeit bilden. Versteht man diese Grundannahmen, dann versteht man auch, warum die scheinbare Paradoxie der systemischen Therapie kein Problem, sondern vielmehr Teil ihrer selbst ist.
Ursprünge der Familientherapie
Als die systemische Therapie entstand, hieß sie noch nicht systemische Therapie. Vielmehr sprach man von Familientherapie, strategischer Therapie oder Kurzzeittherapie (Dallos & Draper, 2015). Auch heute noch wird der Begriff systemische Therapie manchmal synonym mit Familientherapie verwendet.
In den 1950er Jahren sah sich die Psychotherapie in den USA mit zwei unterschiedlichen Phänomenen konfrontiert. Zum einen war die Psychoanalyse als dominierendes Therapieverfahren zu aufwendig und zu teuer, um weite Verbreitung zu finden. Zum anderen war ihre Wirkung - vor allem bei Kindern und Jugendlichen - begrenzt. Selbst wenn die Therapie in der Klinik half, stellte man fest, dass die Probleme wieder auftraten, wenn die Kinder in die Familie zurückkehrten. Das Problem waren nicht die Kinder, sondern die Familien.
Ein neuer Therapieansatz musste her, eine lösungsorientierte Kurzzeittherapie, die nicht nur Einzelne, sondern ganze Familien heilen konnte.
Verschiedene Ansätze entstanden. Als sehr einflussreich sollte sich die Arbeit der Bateson-Gruppe und später des Mental Research Institute in Palo Alto erweisen. Hier entstanden nicht nur zentrale Konzepte wie die Idee des ‚double-bind‘ (Bateson et al., 1956). Mit der Strategischen Therapie (Haley, 1978) und dem Kurzzeittherapieansatz von Watzlawick wurden auch ebenso einflussreiche therapeutische Ansätze entwickelt (Watzlawick et al., 1974).
Diese frühen Konzepte teilten die Annahme, dass Probleme etwas sind, das aktiv gemacht wird. Probleme sind Muster des Fühlens, Handelns und Kommunizierens, die sich durch Rückkopplungsprozesse immer wieder neu stabilisieren. Ein typischer Paarkonflikt wurde folgendermaßen beschrieben: Die Frau beklagt, dass der Mann sich zurückzieht. Der Mann begründet seinen Rückzug mit dem Nörgeln der Frau (Watzlawick et al., 1967). Dieser Ansatz wurde von der Mailänder Gruppe weiterentwickelt und erstmals mit dem Konzept der systemischen Therapie verbunden (Selvini Palazzoli et al., 1977).
In der Therapie geht es darum, diese Muster zu unterbrechen. Gelingt dies, verschwinden die Probleme. Wenn die Probleme verschwinden, können Systeme wieder gesunde Ordnungen bilden. Das geschieht von selbst.
Waren die ersten Ansätze noch sehr direktiv und manipulativ, so vollzog die systemische Therapie in den achtziger Jahren eine Wende hin zum Konstruktivismus und zum ökologischen Denken. Wenn Systeme die Lösung in sich tragen, so die Annahme, dann weiß man es als Therapeut oder Therapeutin nicht besser. Statt auf Macht setzte man auf Augenhöhe und Dialog (Hoffman, 1985). „Der Klient ist der Experte“ (Anderson & Goolishian, 1992) wurde zum Motto der neuen systemischen Therapie. Es entstanden verschiedene Ansätze wie die lösungsfokussierte Therapie (De Shazer, 1991, 2021), der kollaborative Ansatz (Anderson, 1997) oder ein neuer Mailänder Ansatz (Boscolo, 1987). Der Fokus weitete sich und es ging nicht mehr nur um Familientherapie. Auch die Arbeit mit Paaren und Einzelpersonen, mit Organisationen und Teams wurde Teil des systemischen Ansatzes.
Was macht systemische Therapie aus?
Die verschiedenen Ansätze sind sehr unterschiedlich und beanspruchen den Begriff Systemische Therapie nur teilweise für sich. Dennoch teilen sie viele Grundannahmen, die es ermöglichen, sie im Zusammenhang zu sehen. Diese Annahmen sind:
Feedback und Musterunterbrechung. Es wird davon ausgegangen, dass Probleme durch Schleifen im Denken, Fühlen und Kommunizieren aktiv erzeugt werden. Häufig beginnen diese „Problemsysteme“ mit kleinen Anlässen und beginnen dann (Schneeballeffekt), andere Elemente mit einzubeziehen. Es entsteht eine Dynamik, die immer größer und unaufhaltsamer erscheint. Diese Dynamik gilt es zu unterbrechen, wofür je nach therapeutischem Ansatz unterschiedliche Techniken zur Verfügung stehen.
Lösungsorientierung. Die systemische Therapie stand dem problemzentrierten Denken der Psychoanalyse von Anfang an skeptisch gegenüber. „Problem talk creates problems. Solution talk creates solutions“, bemerkte Steve de Shazer. Wenn wir über Probleme sprechen, so die hypnotherapeutische Richtung, geraten wir in eine Problemtrance. Suchen wir hingegen nach Lösungen, erscheinen die Probleme plötzlich kleiner und Alternativen werden sichtbar. Systemische Therapie arbeitet also lösungsorientiert.
Ziele statt Diagnosen. Wenn die systemische Therapie auch mit der Erklärung von Schizophrenie durch Familienkommunikation begonnen hat, wurde in den achtziger Jahren deutlich, dass Diagnosen häufig keine Lösung sind, sondern ein Problem erst verfestigen. Ein Label zu finden ist einfach. Es wieder loszuwerden ist schwer. Diagnosebezogenes Arbeiten führt daher häufig zum Tanz um das Problem – nicht zu seiner Lösung. Zudem haben standardisierte Labels häufig wenig mit der Lebenssituation der Klienten zu tun. Daher arbeitet die systemische Therapie zielorientiert – und das Ziel wird nicht durch die Therapeuten bestimmt, sondern durch die Klienten.
Ressourcen- statt Defizitorientierung. Viele therapeutische Ansätze versuchen, vermeintliche Defizite zu beseitigen. Das hat den Nebeneffekt, dass man sich nur auf das Problem konzentriert und vor lauter Problemen bald die Welt nicht mehr sieht (siehe 3.). In der systemischen Therapie geht es dagegen um Ressourcen und Stärken. Wenn wir diese mobilisieren, so die Annahme, finden unsere Klienten einen Weg, ihre Probleme hinter sich zu lassen.
Orientierung an Kommunikation statt an Personen. Die systemische Therapie hat ihren Ursprung in der Familientherapie. Dort hat sie gelernt, dass das problematische Verhalten einer Person oft nicht der Person, sondern dem Kontext, in dem es auftritt, zugeschrieben werden muss. Das Problem ist weder die Frau, die sich über den Rückzug des Mannes beschwert, noch der Mann, der sich zurückzieht. Das Problem ist das Kommunikationsmuster zwischen den beiden. Individuelle Probleme, so die Annahme, sind das, was übrig bleibt, wenn man den Kontext weglässt. Man könnte dies die Annahme der minimalen Pathologie nennen - von individuellen psychischen Problemen wird nur dann ausgegangen, wenn ein Problem nicht anders erklärt werden kann.
Zukunfts- und Gegenwartsorientierung. Auch wenn es systemische Ansätze gibt, die sich für die Vergangenheit interessieren, überwiegt bei weitem das Interesse an Gegenwart und Zukunft. Es wird davon ausgegangen, dass Probleme etwas sind, das wir hier und jetzt tun können und das in der Zukunft verschwinden kann. Daher interessiert sich die systemische Therapie für eine Zukunft ohne Probleme und für die Frage, wie man sie erreichen kann. Die Entstehung des Problems in der Vergangenheit verliert an Bedeutung. Die Vergangenheit, so Watzlawick (1974), lässt sich ohnehin nicht mehr ändern.
Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Grundannahme. Unsere Wirklichkeit ist eine Konstruktion und wir konstruieren sie alle unterschiedlich' - geht man von dieser Annahme aus, folgt daraus nicht nur, dass man nicht mehr meint, es besser zu wissen als seine Klienten. Daraus folgt auch, dass man Interesse und Neugier für die Welten, die diese Klienten mitbringen, kultiviert. Ebenso folgt daraus in der Paar- und Familientherapie die Allparteilichkeit und Neutralität gegenüber Positionen. Jeder Mensch wird als Person wertgeschätzt. Jede Position hat zunächst einmal ihre Berechtigung (was nicht heißt, dass jede Handlung ihre Berechtigung hat).
Pragmatismus. „If it works, do more of it. If it doesn't, do something else.” Dieses Bonmot, das in systemischen Kreisen de Shazer zugeschrieben wird, spiegelt eine bestimmte Grundhaltung wider, einen Pragmatismus, der seine Wurzeln in der Hypnotherapie Milton Ericksons und im Konstruktivismus hat. Es erklärt auch, warum die systemische Therapie so scheinbar unterschiedliche Ansätze zu verbinden vermag. Es geht ihr nicht so sehr um theoretische Kohärenz (woher soll man auch wissen, was wahr ist). Am Ende zählt, wie man der Lösung ein Stück näherkommt.
Systemische Therapie als Haltung?
Systemische Therapie wird heute gerne als Haltung beschrieben. Das ist insofern richtig, als sie kein so geschlossenes theoretisches und methodisches Gerüst hat wie etwa der Theorieapparat der Psychoanalyse - dazu ist die Systemik viel zu spielerisch, lebendig und vital. Ihre Einheit ergibt sich aus der Verbindung einer humanistischen Ethik mit erkenntnistheoretischen Grundannahmen, klinischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Ergebnissen. Systemische Therapie ist daher eher eine bestimmte Form der Praxis als eine bestimmte Theorie. Die Systemische Gesellschaft beispielsweise spricht von einem systemischen Ansatz.
Das wiederum darf nicht dazu verleiten, in eine etwas fahrlässige Bequemlichkeit zu verfallen, die manchmal mit dem Verweis auf die ‚systemische Haltung‘ zu beobachten ist. Wir sind Systemiker', scheint man sagen zu wollen, 'wir sind die Guten und meinen es gut'. Nun ist das Gegenteil von gut oft nicht schlecht, sondern ‚gut gemeint‘. Eine Haltung ist also nichts, worauf man sich ausruhen sollte. Zu viel von einer Haltung führt in der Regel früher oder später zu Haltungsschäden.
Systemische Therapie muss sich in der Praxis immer wieder im Einzelfall bewähren. Immer wieder aufs Neue gilt es, sich auf seine Klienten einzulassen, jeden Fall als neu und einzigartig zu begreifen und zu prüfen, welche Konsequenzen das hat, was man gerade tut. Vielleicht ist es genau das, was systemische Therapie letztlich ausmacht: sich immer wieder neu um Verstehen zu bemühen, Theorie im Zweifel Theorie und Werkzeuge Werkzeuge sein zu lassen und im Einzelfall gemeinsam mit dem Klienten nach kreativen Lösungen zu suchen. Dass dafür eine ganze Reihe von Ansätzen, Theorien und Methoden zur Verfügung stehen, ist dann eher hilfreich als problematisch.
Literatur
Anderson, Harlene. (1997). Conversation, language, and possibilities: A postmodern approach to therapy (1st ed). BasicBooks.
Anderson, Harlene, & Goolishian, Harlod. (1992). The client is the expert: A not-knowing approach to therapy. In S. McNamee & Ken Gergen (Hrsg.), Therapy as social construction (S. 25–39). Sage.
Bateson, Gregory, Jackson, Don D., Haley, Jay, & Weakland, John. (1956). Toward a theory of schizophrenia. Behavioral Sciences, 1, 251–264.
Boscolo, Luigi (Hrsg.). (1987). Milan systemic family therapy: Conversations in theory and practice. Basic Books.
Dallos, Rudi, & Draper, Ros. (2015). An introduction to family therapy: Systemic theory and practice (Fourth edition). Open University Press.
De Shazer, Steve. (1991). Putting difference to work. Norton.
De Shazer, Steve. (2021). More than miracles: The state of the art of solution-focused brief therapy (Classic edition). Routledge.
Haley, Jay. (1978). Problem-Solving Therapy. Harper & Row.
Hoffman, Lynn. (1985). Beyond power and control: Toward a „second order“ family systems therapy. Family Systems Medicine, 3(4), 381–396. https://doi.org/10.1037/h0089674
Roesler, Christian. (2023). Was genau ist eigentlich systemisch – und was nicht?: Ein Plädoyer für Unterscheidungen, die einen Unterschied machen, und gegen theoriefreie Integration. Familiendynamik, 48(3), 226–238. https://doi.org/10.21706/fd-48-3-226
Selvini Palazzoli, Mara, Boscolo, L., Cecchin, G., & Prata, G. (1977). Paradoxon und Gegenparadoxon. Ein neues Therapiemodell für die Familie mit schizophrener Störung. Klett.
Watzlawick, Paul, Beavin, Janet, & Jackson, Don D. (1967). Pragmatics of human communication: A study of interactional patterns, pathologies, and paradoxes. Norton.
Watzlawick, Paul, Weakland, John H., & Fisch, Richard. (1974). Change: Principles of problem formation and problem resolution. W.W. Norton & Co.
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