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Von Therapietools, napoleonischen Stiefeln und der unsägliche Metapher des Werkzeugkastens

 

“If it works, do more of it. If it doesn't, do something else.” Dieses Zitat von Franklin D. Roosevelt wurde in der Therapie von Steve de Shazer popularisiert. Hauptsache, man macht etwas, so die Idee. Ob es klappt oder nicht, kann man vorher nicht sagen. Wird man dann schon sehen. Wenn es nicht klappt, ist kein Schaden angerichtet, da das Problem unverändert ist. Dann versucht man eben etwas anderes. Trial and Error als therapeutisches Prinzip.

De Shazer hat diese Philosophie verbunden mit einem recht rigiden Set an Fragen, das in exakten Formulierungen für jeden Klienten verwendet wird. In seiner Solution-Focused-Therapy gibt unter anderem Coping-Fragen, Skalierungs-Fragen, Verschlimmerungs- und Ausnahmefragen sowie die berühmte Wunderfrage. Passt eine nicht, wird die andere passen. Irgendetwas wird letztlich klappen – solange man auf die Lösung fokussiert bleibt.

Seinerzeit war das ein innovativer Ansatz, der auf das Scheitern deutlich berechnender Ansätze in der Therapie reagierte. Man kann nie genau sagen, wie eine Frage verstanden, auf eine Intervention reagiert wird. Jeder lebt in seiner eigenen Wirklichkeit. Entsprechend schien es schlüssiger, viele Möglichkeiten in den Raum zu stellen und schauen, was verfängt. Gegenüber der Idee, durch ausreichendes Hypothetischeren die perfekte Intervention zu finden, war das ein echter Fortschritt.


Entlastung und Entertainment durch Therapietools


Aus dieser Philosophie ist die Metapher des „Werkzeugkastens“ gewachsen, den man als Therapeutin oder Therapeut zur Verfügung hat. Gefüllt mit allerhand Tools, kann man schauen, was passt. Wenn es nicht passt, probiert man etwas Neues. Der Werkzeugkasten ist auch ein bisschen Bauchladen. Man bietet an und schaut, was der Kunde (Klient) denn möchte. – So zumindest die Idee.

Die Suche nach der passenden Intervention ist so in den Hintergrund getreten. Therapeutische Strategien und Techniken des Verstehens, der Auswahl und Hypothesenbildung sind aus der Mode. In Mode ist hingegen die Produktion neuer Therapietools. Ständig kommt etwas frisches, aktuelles auf den Markt, das man seinem Werkzeugkoffer hinzufügen kann. Angefangen von Klassikern wie Genogrammarbeit und Aufstellung hin zu modernen, körperorientierten Techniken. Für jeden ist etwas dabei. Und wenn man als Anbieter von Tools unternehmerisches Geschick aufweist, lässt man sich sein Produkt am besten schützen wie PEP® oder der Generation-Code®.

Das hat nicht nur für den ressourcenverknappenden Tool-Produzenten, sondern auch für den Verbraucher (sprich hier: Therapeutin oder Therapeuten) verschiedene Vorteile.

Zunächst ist die Ausgangsannahme sehr kommod: Weil man sowieso nicht weiß, wie Klientinnen und Klienten auf eine Intervention reagieren, muss man sich auch keine großen Gedanken machen. Hypothesenentwicklung rückt in den Hintergrund und nimmt in vielen systemischen Lehrbüchern kaum noch Raum ein. Man lässt sich auf die Situation ein und holt aus dem Koffer, was man gerade in die Hand bekommt oder was man besonders mag.  Oder man vertritt gleich ein quasi-standardisiertes Vorgehen: Zuerst kommt immer Reframing. Dann kommt ein Genogramm etc. etc.

Klappt etwas nicht, kann man sich damit beruhigen, dass ausprobieren dazu gehört (siehe oben). Zudem hat man immer etwas Neues in petto. Ist unklar, worum es in der Stunde geht, macht man etwas nettes wie die ‚Ressourcenhand‘, vielleicht mal eine Aufstellung, ein paar Achtsamkeitsübungen. So kommt man nie in die Situation, blank dazustehen.

Zudem hat das Ganze auch immer eine Art multimedialen Unterhaltungscharakter: Mal Arbeit im Raum, mal Zeichnen auf Papier, mal Spielen mit Figuren oder Imagination und Körperübungen. Langweilig wird es nie. Die Zeiten der Couch sind längst vergangen. Tools sind Entertainment – auch für Therapeutinnen und Therapeuten, die keine Lust haben, Stunde für Stunde zu reden. In jedem Fall, hat man das Gefühl, etwas geliefert zu haben.


Probleme des Werkzeugkastens


Sie merken, ich werde sarkastisch.

Tatsächlich habe ich – wie wohl alle, die innerhalb der letzten zwanzig Jahre eine Ausbildung in systemischer Therapie abgeschlossen haben – viel mit Tools gearbeitet und sogar dazu publiziert (z.B. Schlippe & Jansen, 2020). Tatsächlich können Therapietools eine gute Sache sein und auch ich bediene mich gerne der ein oder anderen Methoden.

Das Problem ist nicht das Vorgehen selbst. Das Problem liegt vielmehr in der Metapher des Werkzeugkastens und im Tool-Denken, das der eigentlich völlig richtigen Einsicht gefolgt ist, dass man vermutlich nie die völlig richtige Intervention kalkulieren kann. Es ist richtig, dass die Suche nach der perfekten Methode und die Steuerungsideen der früheren systemischen Therapie aufgegeben wurden. Wir wissen tatsächlich nie, wie jemand auf ein Angebot reagieren und können nichts anders machen als Angebote.

Das heißt jedoch nicht, dass wir uns nicht um maßgeschneiderte Lösungen statt um Stangenware mit Einheitsgröße bemühen sollten. In der Napoleonischen Armee gab es Stiefel nur in drei Größen und auch nur in einer Form. Zwischen rechts und links wurde nicht unterschieden. Das war günstiger.

Sie können sich vorstellen, was die Folgen für die Füße der Soldaten waren.

Verglichen mit der menschlichen Seele, Beziehungs- und Familiendynamiken ist ein Fuß ein sehr einfacherer Gegenstand. Daher verhält sich vermutlich selbst das Angebot wahrer Tooligans mit prall gefüllten Werkzeugkoffer zur Komplexität der menschen Seele mindestens so unpassend, wie die Stiefel der Napoleonischen Armee zu den Füßen ihrer Soldaten.

Tool-Denken und die Metapher des Werkzeugkastens laufen folgende Gefahren:

 

  1. Wir verlieren den Kontakt zu unseren Klientinnen und Klienten , weil wir uns mehr an unseren Tools orientieren als an den Bedürfnissen derselben. Ohne zu schauen, ob eine bestimmte Vorstellung, wie etwa jene von ‚inneren Anteilen‘ anschlussfähig ist oder ob ein Genogramm nicht eher das Problem größer macht, konfrontieren wir Menschen damit. Das Nachsehen haben unsere Klientinnen und Klienten.

  2. Wir vergessen, dass auch eine misslungene Intervention eine Folge hat. Wenn wir an einer Schraube mal eben einen Bohrer, eine Säge und einen Hammer ausprobiert haben, können wir uns sicher sein, dass der allerbeste Schraubendreher nicht mehr funktioniert. Nicht jede Klientin braucht etwa ein Genogramm (obwohl das viele denken). Ein Genogramm kann vielmehr eine Menge Probleme produzieren. Nicht immer ist ein Reframing ein guter Einstieg. Es kann durchaus dazu führen, dass ein Klient das Gefühl hat, dass wir ihn nicht ernst nehmen.

  3. Wir verlernen, wie wir einen Prozess steuern, da wir die Einsicht, dass wir es mit nicht-trivialen Prozessen zu tun haben, totalisieren. Anstatt uns um maßgeschneidertes Vorgehen zu bemühen, hangeln uns von Tool zu Tool und haben keine Ahnung mehr, wie der Zusammenhang herzustellen ist – was auch damit zusammenhängt, dass in jedem Tool bestimmte Theorien eingeschrieben sind. Doch die passen häufig nicht zusammen. Das verhindert im Übrigen auch das Lernen aus dem Scheitern von Interventionen: Man fängt jedes Mal bei null, bzw. dem vorhandenen Werkzeugkasten an. Statt besser Prozesse zu verstehen, füllen wir nur unseren Werkzeugkasten.

  4. Schlussendlich verfallen wir mit der Metapher des Werkzeugkastens in lineares Denken zurück, in jene „Krankheiten der Erkenntnistheorie“, von denen Bateson  (Bateson, 1981) warnte. Nichts ist trivialer und in nicht-trivialen Situationen unangemessener als die Vorstellung, dass eine bestimmte Handlung, eine bestimmte Intervention, die Anwendung eines bestimmten Werkzeugs, eine bestimmte Folge hat. Genau dieses Denken ist jedoch in der Verwendung von Tools, in der Metapher des Werkzeugkastens eingeschrieben. Tool-Denken geht einen Schritt hinter die schon problematischen frühen kybernetischen Ansätze zurück. Es ignoriert Rekursivität vollends und bemäntelt dies mit der Metapher des Bauchladens und des Anbietens – und das, obwohl die Metapher des Werkzeugkastens bei einer systemischen Einsicht ihren Ausgang nahm.

 Das alles heißt nicht, dass Tools gänzlich abzulehnen sind. Tatsächlich können sie sehr gute Inspirationen bieten, Unterschiede anders zu setzen, von inneren Anteilen zu sprechen oder etwas im Raum sichtbar zu machen. Unterschiede anders zu setzen, ermöglicht es, Probleme zu fragmentieren, zu externalisieren, andere Perspektiven zu gewinnen oder eine Problemtrance zu unterbrechen. Doch der Wechsel des Mediums und das geplante und achtsame Einbringen neuer Unterscheidungen ist etwas anderes als die Verwendung von Tools. Von außen sieht es ähnlich aus. De facto ist es das exakte Gegenteil. Man denke wieder an Napoleonische Stiefel: Diese einem Muster gemäß maßzuschneidern, hätte sehr passende Ergebnisse gebracht und die Stiefel hätten dennoch uniform ausgesehen. Tool-Denken verwechselt also die Landkarte mit dem Gelände, den Stiefel mit dem Muster.


Metastrategien statt Tools


Damit wären wir bei der Alternative zur Metapher des Werkzeugkastens. Diese liegt in der Verwendung von theoriegeleiteten Metastrategien gepaart mit genauer Beobachtung und gutem Pacing. Solche Metastrategien liegen etwa im Mailänder Modell oder in der lösungsorientierten Kurzzeittherapie nach Erickson vor (Short & Weinspach, 2017). Auch die hypnosystemische Therapie nach Schmidt bietet hier gute Ansätze (z.B. Schmidt, 2021).

Metastrategien unterscheiden sich von Tools dadurch, dass sie eine Richtung vorgeben, einen Rahmen für die Arbeit, der eine Vorstellung davon vermittelt, wie man Probleme zu verstehen und Prozesse anzugehen hat. Metastrategien bieten Orientierung im Prozess. Sie kombinieren ein Muster (etwa das eines napoleonischen Marschstiefels) mit der Fähigkeit, daraus ein maßgefertigtes Paar zu schustern.

Maßanfertigungen sind allerdings anstrengend, unbequem, nervenaufreibend und schließlich auch teuer, weil in der Ausbildung und Vor- und Nachbereitung aufwendig. Zudem riskiert man immer wieder, blank da zu stehen, weil man nicht eben ein neues Tool aus der Werkzeugkiste zaubern kann.

Gleichzeitig kann es jedoch gerade deswegen die befriedigendere und interessante Arbeit sein. Befriedigender, weil man tatsächlich an Lösungen arbeitet, die für Klientinnen oder Klienten passen. Interessanter, weil man mit jedem Fall neu herausgefordert wird und nicht schulterzuckend probiert, bis irgendetwas passt oder die Klientin nicht mehr wiederkommt.

Vor der Möglichkeit, unpassende Angebote zu machen, ist man natürlich auch hier nicht gefeit. Denn keine Metastrategie lst das Problem der generellen Unvorhersehbarkeit nicht-trivaler Prozesse. In diesem Fall gilt Roosevelts (bzw. Shazers) Bonmot: “If it works, do more of it. If it doesn't, do something else.” Beide hat es im Übrigen nicht davon abgehalten, nach den beste Strategien zu suchen.



Literatur


Bateson, Gregory. (1981). Krankheiten der Erkenntnistheorie. In Gregory Bateson, Ökologie des Geistes: Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven (S. 614–626). Suhrkamp.

Schlippe, Arist v., & Jansen, Till. (2020). Das Erwartungskarussell als Instrument zur Klärung komplexer Situationen im Coaching – vorgestellt am Beispiel der Nachfolge in Familienunternehmen. Konfliktdynamik, 9(2), 128–134. https://doi.org/10.5771/2193-0147-2020-2-128

Schmidt, Gunther. (2021). Liebesaffären zwischen Problem und Lösung: Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten (Neunte Auflage). Carl-Auer Verlag GmbH.

Short, Dan, & Weinspach, Claudia. (2017). Hoffnung und Resilienz: Therapeutische Strategien von Milton H. Erickson (Dritte Auflage). Carl-Auer-Systeme Verlag.

 

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