Die Diagnose psychischer Erkrankungen nehmen wir heute als gegeben hin. Eine Störung hat man - oder man hat sie nicht. Die Diagnostik psychischer Störungen ist jedoch zumindest im heutigen Umfang ein sehr neues Phänomen, das nicht nur eine psychologische Dimension hat. In einer Reihe von Beiträgen gehe den unterschiedlichen Dimensionen nach. Teil I beschäftigt sich mit der Entstehung der modernen Diagnostik und mit der soziologischen Dimension. Teil 2 konzentriert sich den Nutzen, den man aus Diagnosen im therapeutischen Gespräch ziehen kann.
"Für welche Probleme sind Diagnosen eigentlich eine Lösung?"
"Für welche Probleme sind Diagnosen eigentlich eine Lösung?" - Levold und Lieb (2017) reicht diese etwas ungewöhnliche Frage als Anlass für eine Diskussion, die ein ganzes Buch füllt. Die meisten von uns wird das wundern. Diagnosen, denken wir uns, das ist, wenn eine Krankheit fachgerecht festgestellt wird. Eine Diagnose ist eine Diagnose. Sie kann stimmen oder auch nicht. Haben wir eine Diagnose, so wissen wir, welches Problem wir haben und wie wir es angehen. Die Lösung ist doch eher die Therapie. Die Diagnose löst bestenfalls das Problem unseres Unwissens über die Wahl der richtigen Therapie.
Doch so einfach ist es nicht - gerade, wenn man es mit Diagnosen im Bereich sogenannter psychischer Störungen zu tun hat. Hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen und unseren Geist, gewöhnt an die Allgegenwärtigkeit psychischer Diagnostik, ein wenig zu wenig zu mobilisieren und zu dehnen. Wir strecken uns geistig und lassen uns auf die Frage ein: Welches (oder wessen) Problem löst eigentlich die Erfindung der Diagnosen seelischer Krankheiten?
Diagnosen waren lange wenigen, schweren Störungen vorbehalten
Ein guter Anfang für solche geistige Dehnübungen ist eine historische Betrachtung (etwa Horwitz 2003). Diagnosen über seelische Sachverhalte wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausschließlich für schwere Störungen gestellt. Es gab nur eine handvoll. Heute würden wir Begriffen wie Schizophrenie (hieß damals dementia praecox), schwerer Depression (hieß damals Melancholie) und Hysterie (heißt heute dissoziative Störung, bzw. histrionische Persönlichkeitsstörung ) verwenden. Wer eine Diagnose bekam, endete zumeist in eine psychiatrisch Klinik.
Ambulante Psychotherapie gab es noch nicht. Das meiste, was wir heute als psychische Krankheit oder Störung begreifen, leichte Depressionen, manische Phasen, Ängste, Panikattacken etc. galt damals als Nervenschwäche und wurde mit Kuren behandelt. Konnte man es sich leisten, reiste man nach Bad X und nahm Bäder.
Alternativ konnte man die Probleme als moralische Begreifen und damit zum Pastor gehen. Doch der konnte wenig mehr als Beten empfehlen, der katholische Priester immerhin noch Absolution erteilen. Exorzismus war zumindest in Westeuropa schon aus der Mode gekommen. Selbst das Beten hatte spätestens im Nachgang zu Nietzsche nur noch wenige Anhänger.
Seelische Probleme waren also um die Jahrhundertwende obdachlos geworden. Die Kuren der Ärzte waren unzureichend. Die Autorität der Kirchen schwindend. Die Lücke begann zunächst die Hypnose insbesondere die der Schule von Nancy auszufüllen. Bald jedoch wurde sie verdrängt von der Psychoanalyse mit ihrer unbestrittenen Fähigkeit, das gesamte menschliche Alltagsleben zu pathologischeren - angefangen vom Witz bis hin zur Religion. Indem man behauptete, dass praktisch jeder Mensch verdrängte Probleme hat, die zu Symptomen führten, wurde praktisch jeder Mensch potentieller Patient. Der Begriff der Neurose erlaubte es nun auch niedergelassen tätigen Ärzten psychotherapeutisch tätig zu sein. Die allgemeinen menschlichen Probleme des Lebens, konnten so medizinisch behandelt werden.
Im Hinblick auf unsere Ausgangsfrage kann man also sagen, dass die Psychoanalyse ein Problem der Ärzte löste, nämlich die Frage, wie man als Neurologe und Psychiater in eigener Praxis arbeiten kann. Die Diagnose löste aber auch das Problem, wohin man als normaler Mensch mit seinen Alltagsproblemen gehen kann, wenn man nicht mehr an Gott glaubte und die Medizin mit ihren Kuren die Probleme nicht gelöst bekam. Die Überführung menschlichen Leids in ein ärztliches Problem war sozusagen eine Win-Win-Situation. Umgekehrt könnte man auch sagen: Aus ganz normalen Problemen des menschlichen Lebens wurden plötzlich zu behandelnde Krankheiten.
Die moderne Diagnostik würde für Probleme in Forschung und Verwaltung entwickelt
Historisch hat sich das Arrangement jedoch zunächst bewährt, schlichtweg, weil keine Alternative in Sicht war. Als problematisch stellte sich jedoch bald die psychoanalytische Diagnostik und Therapie heraus. Die Diagnosen der Psychoanalyse eigneten sich nicht für den Alltagsgebrauch von Krankenkassen und statistisch arbeitenden Wissenschaftlern, weil die Diagnose eigentlich erst irgendwann im Laufe der Analyse klar und letztlich auch nicht wirklich wichtig war. Die Theorie war zudem stark umstritten.
So entstand nach dem zweiten Weltkrieg ein erstes Diagnosemanual (DSM). Dieses fügte vor allem Symptome zu Krankheitsbildern zusammen. Anfangs noch psychoanalytisch gedacht,, entwickelten sich die Manuale (DSM und ICD) im Bereich psychischer Krankheiten weitgehend deskriptiv: Man bündelte Symptome und gab ihnen einen Namen. Beruhte diese Bündelung anfänglich noch auf der Psychoanalyse, so war das seit den siebziger Jahren nicht mehr der Fall. Eine Diagnose war rein beschreibend. Sie sah von allen Erklärungen, wie eine Krankheit zustande kommt, ab. Es entwickelte sich so eine Diagnostik, die für statistische Wissenschaft wie auch für die Krankenkassen praktisch war. Die neue Diagnostik (die auch heute noch gilt) löste also das Problem einer Gesellschaft, die rechnen muss.
Diagnosen haben in der Therapie wenig verloren
Damit stehen wir jedoch heute vor der Frage, wie wir therapeutisch mit Diagnosen verfahren. Denn Diagnosen wurden nicht dazu entwickelt, psychische Problem besser therapeutisch behandeln zu können. Sie lösen nicht das Problem, bessere Angebote für Menschen mit Problemen zu machen.. Nicht ohne Grund schreibt Irvin Yalom (2011), dass Diagnosen nur etwas für Krankenkassen seien - ausgenommen schwere Fälle.
Dennoch tun wir so, als sei das nicht der Fall. Es tritt in der Psychotherapie und Psychiatrie häufig eine Art kognitiver Verzerrung auf: Sobald wir ein Wort für etwas haben, denken wir, es gäbe die Sache, die das Wort bezeichnet wirklich. War also die Kategorie 'Depression' einmal nur als beschreibender Sammelbegriff für eine Menge verschiedener Symptome gedacht, denken wir heute, es gäbe etwas wie die Krankheit 'Depression'.
Daraus folgen verschiedene Probleme:
Erstens beziehen sich Diagnosen noch immer auf eigentlich typische Probleme des menschlichen Alltagslebens. Werden wir etwa depressiv, weil unsere Beziehung uns unglücklich macht, so ist das eine normale Reaktion, keine Störung, wie etwa ein gebrochenes Bein. Es gilt als krank, was eigentlich normal ist. Würden wir also nur damit arbeiten, ein Symptom weg zu bekommen, würden wir das Problem nicht lösen. Der Blick auf die Diagnose verstellt den Blick auf das Problem und den Klienten.
Das mag sehr theoretisch und auch ein wenig künstlich klingen, ist aber im Alltag tatsächlich akut. So erzählte mir neulich eine Teilnehmerin in einer Weiterbildung, dass die Verhaltenstherapeutinnen, die in ihrer Klinik in Ausbildung seien, nur Patienten behandelten, die nur eine einzelne, klar abgrenzbare Diagnose hätten. Ähnlich, wie Chirurgen etwas zynisch von "der Milz" oder "der Leber" sprechen, wenn sie den Patienten meinen, hatten diese Kandidaten als nur "die Depression" oder "den Maniker" - oder sie verwenden gleich die Codes des ICD: F32 oder F30. Man arbeitet also nicht mehr mit Menschen an den Lösungen ihrer Probleme, sondern ist damit beschäftigt, einen F32 zu behandeln. Unser Denken und Fühlen ändert sich also, wenn wir in Diagnosen denken.
Dazu gehört auch, dass Menschen mit nicht klar zuzuordnenden Symptomen durch das Raster fallen. Die Verwechselung von Diagnose und Mensch in dem genannten Beispiel ging soweit, dass Patienten abgewiesen wurden, deren Probleme nicht in den entsprechenden Fragebögen zu den entsprechenden Ergebnissen kamen. Konnte das Diagnose-Tool das Problem nicht klassifizieren, so sollte nicht behandelt werden. Ob der Patient der Meinung war, dass er Hilfe brauchte oder nicht, oder wo gar sein Problem war, interessierte hier nicht weiter. Es zählt die Diagnose. Nicht der Mensch und nicht das Problem. Und selbst wenn sich diese Orientierung im Alltag abschleift, bleibt sie doch die primäre berufliche Sozialisierung.
Diagnosen erklären nichts. Sie gruppieren nur Symptome
Hinzu kommt, dass Diagnosen seelischer Leiden, wie wir sie heute begreifen, zumeist nicht mit Ätiologie oder Pathogenese hinterlegt sind (für Ausnahmen siehe Teil III). Sie sagen nichts darüber aus, wie es zu dem Problem kommt, das wir hier sehen. Während also die Organmedizin zwischen Symptom (Husten) und dem Auslöser (virale Pneumonie) unterscheidet, kennen Psychologie und Psychiatrie vor allem Symptome, die zu einer Störung verbunden werden (Antriebslosigkeit, kreisende Gedanken, Morgentief etc. = Depression). Was das Symptom verursacht, wenn man überhaupt von einer kausalen Verursachung sprechen kann, ist mit der Diagnose noch lange nicht gesagt.
Das führt nun nicht selten zu dem Gedanken, man würde ein Problem beseitigen, wenn man die Symptome beseitigt. Tatsächlich funktioniert das häufiger, als man denkt, wenn beispielsweise die Behandlung mit Antidepressiva dazu führt, dass wir uns von unserem toxischen Partner trennen können. Doch das klappt eben auch nicht immer. Und ein Denken in Diagnosen, die auf Symptome reduziert sind, reicht über diese selten hinaus. Eine Symptombehandlung kann auch durchaus auf die Bewahrung des eigentlichen Problems abstellen. Die Rolling Stones haben das schon vor über fünfzig Jahren sehr klar in "Mothers little helper" thematisiert: Mama schluckt Benzodiazepine gegen ihre Depression, bis sie ihre Überdosis erleidet.
Diagnosen können Stigmatisieren. Sie können aber auch entlasten
Darüber hinaus haben Diagnosen eine gesellschaftliche Dimension. Bricht man sich ein Bein, so hat man ein gebrochenes Bein. Die Kollegen mögen murren, weil man krank geschrieben ist. Aber so ist das nun einmal. Gebrochene Beine werden selten als Persönlichkeitsproblem beschrieben. Sie sind etwas, das man hat. Psychische Probleme werden hingegen häufig als etwas anderes begriffen. Sie werden häufig betrachtet als etwas, das man ist. Sie werden häufig als persönliche Schwäche angesehen, als eine Art Charakterproblem. Trotz allem Aktivismus in den sozialen Medien sind sie so nicht selten noch immer mit Stigmatisierung verbunden (klassisch Goffman 1963). Man schämt sich ihrer, hat Schuldgefühle und sucht, sich zu verstecken.
Das hat jedoch auch eine andere Seite: Diagnosen können das Problem lösen, dass wir haben, wenn wir uns selbst nicht mehr verstehen. Eine Diagnose auch entlastend sein. Weiß ich, dass ich an einer Krankheit leide, heißt dies auch immer, dass ich nicht selbst an dem Schuld bin, was derzeit geschieht. Es heißt, dass da etwas in mein Leben getreten ist, das zur Zeit außerhalb meiner eigenen Macht liegt. Die Diagnose hilft, dies anzuerkennen und die therapeutische Arbeit ist immer sowohl die Unterstützung dieser entlastenden Bewegung, wie auch die Suche nach Möglichkeiten, ohne die Diagnose zu leben.
Doch auch hier liegt wieder eine Gefahr: Hat man einmal eine Diagnose, wird man sie nur schwer wieder los. Nicht nur gewöhnt sich das Umfeld an sie. Man gewöhnt sich auch selbst an sie. Man läuft Gefahr, seine Krankheit als gegeben anzusehen und fürchtet sich vor einem Leben ohne. Das geschieht häufiger, als man denkt und ist wahrscheinlicher, je länger ein Leben von einer Diagnose geprägt wird.
Ob es im Einzelfall eher zu Stigmatisierung kommt oder zu einem Gefühl der Entlastung (oder zu beidem), ob die Diagnose hilfreich ist oder zur Chronifizierung und Gewöhnung führt, hängt maßgeblich am sozialen Kontext und an der eigenen Einstellung. Je nachdem könnte man also sagen, dass die Diagnose zum einen eine Lösung für soziale Systeme ist, mit ungewohntem Verhalten umzugehen. Sie kann aber auch eine Lösung für individuelle Probleme sein. Wenn ich mir selbst fremd werde, kann eine Diagnose Aufklärung schaffen. Ich kann mich selbst neu kennenlernen.
Diagnosen lösen und sind Probleme
Diagnosen lösen also viele Probleme, Probleme des Medizinsystems und Probleme einer statistisch geprägten Wissenschaft. Sie ermöglichen es, seelischem Leid in der Gesellschaft einen Ansprechpartner zu geben. Gleichzeitig werfen sie damit aber auch neue Probleme auf und verstellen andere.. Diagnosen können auch dazu führen, dass man sich mit dem eigentlichen Problem nicht beschäftigt, sondern nur mit den Symptomen. Im schlimmsten Fall führt das Denken in Diagnosen dazu, dass das eigentliche Problem konserviert wird.
Das Denken in Diagnosen hat noch andere Seiten. Es kann im Gespräch als Ressource genutzt werden und ist manchmal unvermeidlich, wenn man über die Reichweite von Gesprächstherapie nachdenkt. Lesen hierzu mehr in Teil II des Blogs "Wozu Diagnosen?"
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