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Depression bei Männern

Aktualisiert: 21. Dez. 2023


Bei Männern wird nur halb so häufig eine Depression diagnostiziert wie bei Frauen. Jedoch werden zwei von drei Suiziden von Männern begangen. Noch immer ist wenig bekannt, dass Depressionen wich bei Männern anders zeigen als bei Frauen. Männer werden aggressiv, verlieren die Impulskontrolle und neigen zur Selbstmedikation mit Alkohol und Drogen. Männer sind nicht weniger depressiv. Sie sind anders depressiv.





Der Gender-Pay-Gap ist bekannt. Der Gender-Depression-Gap weniger. Frauen verdienen nicht nur weniger. Sie sind auch doppelt so häufig depressiv. Die Forschung sieht hierfür verschiedene Gründe (Kuhner, 2017). Zum einen gibt es biologische Ursachen und Typen von Depression, die zwar auch bei Männern auftreten können, jedoch fast ausschließlich bei Frauen auftreten – etwa die postpartale Depression im Kindbett (z.B. Scarff 2019). Daneben gibt es soziostrukturelle Faktoren, die in vielem identisch mit jenen Faktoren sind, die für den Gender-Pay-Gap verantwortlich gemacht werden können. Frauen leiden häufiger unter häuslicher Gewalt, sind strukturell benachteiligt und häufig überlastet. Entsprechend treten bei ihnen häufiger unter Symptomen wie Schuldgefühle, depressiver Stimmung, kreisende Gedanken und Schlafstörungen auf. Depression ist ein weibliches Problem, könnte man sagen. Entsprechend wundert es auch nicht, dass Frauen deutlich häufiger in Therapie gehen.


Depression zeigt sich bei Männern mit anderen Symptomen


Diese Situation ist schlimm genug. Jedoch ist der Gender-Depression-Gap keine Frage von mehr oder weniger. Denn im Fall von Depressionen verschwindet ein Teil des Problems hinter den Diagnosestandards (zum Problem der Diagnose). Männer sind anders depressiv bei Frauen. In einer Metastudie stellen Cavanagh et al. (2017) fest, dass Frauen typischerweise unter Stimmungsveränderungen leiden, unter Gewichtsveränderungen, Appetitverlust und unter Schlafstörungen. Es handelt sich ausnahmslos um typische diagnostische Kriterien, die im ICD 10, dem geltenden Diagnosemanual, genannt werden. Männer hingegen zeigen andere Symptome. Sie berichten von Alkohol- und Drogenkonsum, von Aggressionen und von mangelnder Impulskontrolle. Anders ausgedrückt: Depressive Männer neigen zu Gewalt und betrinken sich. Frauen ziehen sich zurück und sind bedrückt. Männer werden unangenehm, Frauen zeigen Verhalten, das Sorge hervorruft (siehe auch: People Pleasing).


Männer zeigen keine (oder weniger) klassisch depressiven Symptome als Frauen. In vielen Fällen kehrt sich die Symptomatik sogar um – zumindest, wenn man von außen auf das Verhalten schaut. Was in Aggression und mangelnder Impulskontrolle schon anklingt, zeigt sich anderswo deutlicher: Depressive Männer haben häufig kein Problem damit, zur Arbeit zu gehen. Manchmal ist das Gegenteil der Fall. Depressive Männer arbeiten mehr. Sie sind nicht antriebsgemindert, sondern antriebsgesteigert. Sie machen mehr Sport, steigern ihre Leistung, treiben ihren Körper zum Äußersten.


Diese Intensität resultiert jedoch nicht aus einem gesteigerten Interesse oder aus Begeisterung. Häufig ist sie vielmehr ein suchtähnliches Verhalten. Arbeit ist eine Art der Verdrängung des eigenen Empfindens. Mit Arbeit oder Sport kann man sich betäuben – gerade, wenn man von Gefühlen des Nicht-Genügens, der Minderwertigkeit verfolgt wird. Man(n) kämpft darum, immer besser zu werden, damit diese Gefühle verstummen.


Das Empfinden, das mit diesem Verhalten korrespondiert, sind entsprechend weniger Niedergeschlagenheit und Trauer. Vielmehr fühlen depressive Männer gar nichts – oder sie meinen, nichts zu fühlen. Pavel Gelman schreibt: „Eine Depression ist, wenn sie ein vollständiges Bild der Welt im Kopf haben und versuchen, Fakten zu finden, die es zerstören und widerlegen könnten - doch das gelingt nicht: Die Welt ist genauso schrecklich, wie sie dachten. Dann kommt die Depression.“ Das depressive Gefühl ist eines der Leere. Zudem rechnen Männer die Ausweglosigkeit extern zu. Die Welt ist schrecklich, nicht die eigene Gefühlswelt. Die depressive Stimmung wird nicht als Stimmung erlebt, sondern als eine nahezu ausweglose Faktizität.



Das führt nicht selten zu falscher Behandlung


Der depressive Mann fühlt sich einsam und flieht in seine Vereinzelung. Er betäubt sich mit Tätigkeit und Drogen. Im Zweifelsfall wird er aggressiv und/oder autoaggressiv im Kampf gegen eine ungerechte Welt oder die eigenen Grenzen.

In der Folge kommen nur wenige Männer zur Therapie. Männer regeln die Dinge mit sich selbst. Diejenigen, die es dennoch schaffen, werden häufig fehldiagnostiziert. Sie fallen durch das Raster, weil ihre Symptome nach gängigen Diagnosekriterien keine Symptome für Depressionen sind. Manchmal werden ihre Leiden physiologisch interpretiert. Manchmal wird eine Suchterkrankung festgestellt und die Betroffenen kommen in eine Entzugsklinik. Das heißt jedoch zum einen, dass die Betroffenen einen stationären Aufenthalt hinter sich bringen, der eine sehr geringe Erfolgsquote vorzuweisen hat. Es heißt auch, dass der Therapieerfolg falsch bemessen wird, nämlich am Parameter Abstinenz. Man kann jedoch sehr gut abstinent und depressiv sein. Das merkt man unter Umständen jedoch erst, wenn der Betroffene Suizid begangen hat.


Wo all das nicht eintritt, besteht noch immer das Risiko, dass der betroffene Mann auf einen pharmakologisch denkenden Psychiater trifft, der Depression als hirnorganisches Problem auffasst. Das ist zwar nicht falsch. Doch das lineare, organische Denken der organischen Psychiatrie entspricht dem Denken depressiver Männer: Das Problem wird extern (im Gehirn und nicht im Empfinden) verortet. Es wird zu linearen Mitteln der Problembearbeitung gegriffen (Medikation). Die Depression, gedacht als Ungleichgewicht von Neutrotransmittern, wird quasi-aggressiv ausgemerzt. Das geschieht in einem Prozess, der weder etwas an den Lebensumständen ändert noch das soziale Umfeld einbindet. Die Therapie erfolgt isoliert, in einem Modus, der dem depressiven Empfinden entspricht: Ich kämpfe allein mit meinen Medis gegen mein dysfunktionales Gehirn.


"Männer haben keine Depression. Sie bringen sich höchstens um."


In der Folge trifft man immer wieder Klienten, die unter wiederkehrenden depressiven Episoden leiden. Sie arbeiten so lange, bis es nicht mehr geht. Dann gehen sie in die Psychiatrie, wo sie Medikation bekommen. Sobald sich die Lage halbwegs normalisiert hat, geht es wieder von vorne los.


Der Gender-Depression-Gap besteht also zweifelsfrei. Er sieht nur etwas anders aus, als man auf den ersten Blick denken mag. Und er ist auch nicht so einseitig, wie der Gender-Pay-Gap. Vielleicht bringt es Gottfried Huemer (2013) am besten auf den Punkt: „Männer haben keine Depressionen - sie bringen sich höchstens um.“

Das sehen nicht nur viele Männer so. Auch der Psychologie fehlt oft die Sprache für die männliche Depression.



Literatur



Cavanagh, Anna; Wilson, Coralie J.; Kavanagh, David J.; Caputi, Peter. 2017. Differences in the Expression of Symptoms in Men Versus Women with Depression: A Systematic Review and Meta-analysis. Harvard Review of Psychiatry 25(1):p 29-38, 1/2. | DOI: 10.1097/HRP.0000000000000128

Gelman, Pavel. 2021. Die Weisheiten des Philosophen Jakob. Berlin: Ciconia Ciconia

Huemer, Gottfried. 2013. Männer haben keine Depressionen.... Freiburg: Kreuz Verlag

Scarff JR. Postpartum Depression in Men. Innov Clin Neurosci. 2019;16(5-6):11-14. PMID: 31440396; PMCID: PMC6659987.

Kuehner, C. 2017. Why is depression more common among women than among men? Lancet. https://doi.org/10.1016/S2215-0366(16)30263-2

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