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Es gibt keinen Narzissmus!

 

„Es gibt keine Narzissten! Nur Menschen in narzisstischen Nöten“ (Eidenschink, 2023) lautet der Titel einer der Neuerscheinungen bei Carl Auer. Zufällig war ich darauf gestoßen und dachte mir: Das klingt gut. Finde ich interessant. Ein wenig provokant, gerade deswegen jedoch ungewohnte Weise mitfühlend. Denn wenn – oder gerade, weil – Narzissmus in aller Munde ist, denkt man selten an das Leid der Betroffenen. Narzissmus ist eigentlich keine Diagnose mehr. Narzissmus ist ein Schimpfwort. Narzissten, das sind im allgemeinen Verständnis Egomanen, selbstsüchtige und rücksichtslose Menschen. Narzissten lassen im Alltagsverständnis andere leiden. Sie leiden nicht selbst.

Vermutlich ist keine Diagnose so stigmatisierend. Selbst in den wunderbaren Episoden „Tom – Therapie mit einem Narzissten“ des Podcasts „Tales of Therapy“ winden sich die Autoren um die Diagnose. Schließlich bleibt es dem Patienten selbst überlassen, das Wort zum ersten Mal in den Mund zu nehmen. ‚Tom‘ spuckt es förmlich aus, getränkt von Wut, Selbsthass und Scham.

Wie also über Narzissmus reden, ohne in das stigmatisierende Alltagsverständnis zu rutschen? Eidenschinks schlägt vor, von narzisstischem Leid zu sprechen und nicht von Narzissten.  


Ein Buch für alle und jeden

 

Das, dachte ich mir, ist klingt gut. Vielleicht zu gut, dachte ich, als ich das Buch in Händen hatte. Denn da war noch ein weiterer Untertitel, den ich übersehen hatte.

„Eine Handreichung für alle und jede(n)“, stand da.

Ein Buch für alle, dachte ich. Kann das gutgehen? Ein Ratgeber für Therapeuten und „Menschen mit narzisstischen Nöten“, für Angehörige und für Personalverantwortliche in Unternehmen, für Führungskräfte und gesellschaftskritische Soziologen? Das eine Buch, dessen Zielgruppe alle sind? Ist das nicht ein wenig narzisstisch ambitioniert?

Doch worum geht es?

 

Orientierungslosigkeit und Verlust Selbstkontakts

 

Zunächst interessiert Eidenschink die biographische Entstehung und greift auf psychoanalytische Theorien zurück. Er beschreibt die Tragik einer Kindheit, in der der Selbstkontakt verloren geht. Die Rückmeldung der Eltern passt nicht zu dem, was das Kind gesagt oder getan hat. Eltern übersteuern im Lob oder in der Kritik. Sie werden überwachend und sehen im Kind etwas, das es nicht ist. Solche Eltern machen aus ihrem Kind ein Projekt, eine Unternehmung. Es soll darstellen, was sie selbst sein und haben woll(t)en. Das Kind ist Produkt und Dekoration. Es selbst kommt mit seinen Eigenarten und Bedürfnissen kaum vor.

So lernt ein Kind, frühzeitig sich an den Vorgaben seiner Eltern zu orientieren. Es lernt, was es zu fühlen hat und verlernt zu spüren, was es tatsächlich spürt. Es versteht, was es wollen soll und weiß nicht mehr, was es will. Es lernt, dass die Fassade das Relevante ist und dass Wert in Konkurrenz entsteht. Das Kind beginnt sich so zu verhalten, dass es den Eltern entspricht.

Das Resultat ist eine Dynamik der Selbstdarstellung und -optimierung, die einzig eine positive Rückmeldung und Erfolg verspricht. Wenn ich nicht bin, wer ich bin, könnte man sagen, werde ich als der geschätzt, der ich bin.

Es ist jedoch nicht nur das Elternhaus, das narzisstisches Leid wahrscheinlich macht. Es ist auch eine Gesellschaft, die vom Wettbewerb und der Vereinzelung lebt, eine Gesellschaft der Singularitäten (Reckwitz, 2017). Das betrifft so offensichtliche Phänomene wie die Influencerkultur auf TikTok und Instagram. Doch auch Starkultur und letztlich fördert eine materialistische Gesellschaft, die auf Konkurrenz von Individuen aufbaut, narzisstische Dynamiken, weil sie sei positiv belohnt – anders als eine Gesellschaft, in der das Anhäufen von Geld Menschen seltsam gilt (siehe etwa Bateson, 1963).

 

Narzisstische Leidende finden sich gerade nicht großartig

 

Narzisstisch Leidende haben verlernt zu spüren, was sie wollen und brauchen. Wenn aber der Selbstkontakt fehlt, springen Ideale ein, perfektionistische Ziele, deren Erreichen ausschließlich Glück verspricht. Entsprechend stürzt sich der narzisstisch Leidende in die Grandiosität. Dabei ist es jedoch recht gleich, ob man großartig wird (Bundeskanzler, CEO, Nobelpreisträger), großartig scheitert oder als verkanntes Genie lebt. Entscheidend ist, dass man der Idee von Großartigkeit anhängt, die man den anderen abspricht.  

Das Leben wird so zur Selbstquälerei, einem Konkurrenzkampf, in dem man nicht glücklich wird und in dem man die anderen nur als Konkurrent oder Mittel zum Zweck zu sehen vermag. Die Ideale sind unbarmherzig, weil sie das tatsächlich Ich immer unzureichend zurücklassen – selbst die nachdrücklichste Selbstoptimierung hilft nicht. Der narzisstisch Leidende ist

letztlich das Gegenteil dessen, was er nach außen scheint: Er ist kaum zufrieden mit sich selbst und sorgt nicht für sich selbst. Narzisstisches Leid entkernt die Betroffenen.

 

Unter narzisstischem Leid leiden

 

Doch zu den Betroffenen gehören auch immer Menschen in der Umwelt des narzisstisch Leidenden, Familie, Mitarbeiter, Kollegen. Dabei betont Eidenschink, dass auch dieses sekundäre Leid etwas ist, das man ändern kann. Oder, umgekehrt: Wer an einem narzisstisch Leidenden leidet, tut das meist aktiv indem er bestimmte Erwartungen pflegt.

So entstehen komplementäre Muster. Man kann sich etwa aufwerten und an der Grandiosität narzisstisch Leidender teilnehmen, man kann ihre Anerkennung suchen, sie retten wollen oder sich einfach nur vor ihnen ängstigen. Narzisstisch Leidende können auch komplementäre Beziehungen eingehen, was sehr stabil sein kann. Gerade in Paarbeziehungen funktionieren narzisstische Dynamiken gut – ob sich nun beide Partner narzisstisch zu gemeinsamer Grandiosität verschmelzen oder ob sich komplementäre Situationen bilden.

 

Gesellschaft und Narzissmus

 

Es bleibt nicht bei Paardynamiken. Narzisstische Dynamiken, das beschreibt Eidenschnik, ohne gleich in die Diagnose einer „narzisstischen Gesellschaft“ (Maaz, 2012) abzudriften, sind auch immer soziale Dynamiken. Sie können Familien erfassen, Unternehmenskulturen oder auch öffentliche Dynamiken. Das Denken in Idealen, an denen alles gemessen wird, die Polarisierung in Freund und Feind, die Idealisierung einzelner Persönlichkeiten – all das lässt sich auch außerhalb einzelner Personen finden. Narzisstische Dynamiken kennen keine politische Partei und keine Weltanschauung. Sie finden sich ebenso in ökologisch-fundamentalistischen Bewegungen, wie in neurechten Führerkulten, in der Start-Up-Szene wie in auch im therapeutischen Milieu.

 

Nicht mitspielen

 

Damit kommen wir zu der Frage, was man tun kann. Eidenschinks Antwort lautet vor allem: Nicht mitspielen. Für die narzisstisch Leidenden selbst gilt es vor allem, aufzuhören, den Grandiositätsphantasien nachzulaufen und das anzublicken, was da ist: Unsicherheit, Leere und Einsamkeit, um dann eine echte Selbstfürsorge kultivieren zu können. Für Beteiligte heißt es vor allem, Lügen und schlechte Behandlung nicht hinzunehmen, sich nicht erpressbar zu machen – aber auch nicht der Verführung der Grandiosität zu verfallen. Und für Therapeuten, Coaches und Berater heißt Nicht-Mitspielen: sich nicht einwickeln und nicht unter Druck setzen zu lassen, Unabhängigkeit und Anderssein zu kultivieren, um eine ambivalente Beziehung „aggressiver Liebe“ aufbauen zu können.

 

 

Die Grenzen der Nicht-Etikettierung

 

Die Nicht-Etikettierung von Menschen als Narzissten ist Eidenschink ein großes Anliegen. An seine Grenzen scheint mir dieses Anliegen jedoch spätestens dort zu stoßen, wo es um die Frage geht, wie sich narzisstische Not bei anderen erkennen lässt (Kapitel 10). Das sieht der Autor auch. Die Frage nach der ‚Narzisstenerkennung‘ ist „vermintes Gebiet“ (91), droht sie doch direkt in die Stimatisierungsfalle zu führen. Gleichzeitig muss man narzisstische Dynamiken jedoch erkennen, um sich nicht in ihnen zu verfangen.

Klaus Eidenschink möchte dieses Dilemma umgehen, indem er für die eigene Reaktion sensibilisiert. Die Frage ist also nicht, wie der andere sich verhält, sondern wie ich selbst darauf reagiere. Die Frage wird eine der Resonanz.

Wird das Problem so gelöst? Wohl nur bedingt. Denn, ob man nun das Verhalten der Anderen oder die eigene Reaktion als Indikator verwendet, um Menschen als narzisstisch Leidende zu ‚erkennen‘ – in jedem Fall geht es darum, Narzissten zu erkennen.

Ist das überhaupt anders möglich? Mir scheint das Dilemma unausweichlich. Sobald man sich auf die essentialisierende Kategorisierung von Menschen einlässt, entkommt man ihm nicht. Angemessene Antworten auf narzisstisches Leid und das Leid, das narzisstisch Leidende anderen zufügen, kann ich nur finden, wenn ich es benenne. Sobald ich es benenne, ist der Begriff jedoch gefallen und das Etikett verteilt – auch, wenn wir nur noch von narzisstisch Leidenden. Auch das war wohl einer der Gründe, dass es die narzisstische Persönlichkeitsstörung in den neuen Diagnosekriterien des ICD 11 nicht mehr gibt.

 

 

Eine Handreichung für (fast) alle und jede(n)

 

Ein Buch für alle und jede(n) verspricht der Untertitel. Tatsächlich schränkt der Autor ein: ein Fachbuch ist es nicht (140). Und auch, wenn er Grundlinien des therapeutischen und beraterischen Umgangs darlegt, so ist das Buch vor allem ein Selbsthilfebuch, das sich an direkt oder indirekt Betroffene wendet.

Dabei gelingt es Eidenschink sehr gut, nicht auf jene narzisstische [sic!] Selbstoptimierungsdynamik einzusteigen, die er selbst in Selbsthilfebüchern ausmacht (51f.). Es gibt keine Kaskaden von Übungen, die dazu führen sollen, dass man am Ende man als idealer Nicht-Narzisst oder perfekter Narzisstenerkenner dasteht. Eidenschink verfällt nicht der paradoxen Aufforderung, seine Bedürfnisse zu erkennen, indem man tut, was er will.

Das liegt vor allem daran, dass er sich vor allem auf das Unterlassen konzentriert. Er gibt Anleitungen dafür, wie man die Sache noch schlimmer macht, eine ‚Anleitung zum Unglücklichsein‘ (Watzlawick, 2016). Folgt man der Anleitung nicht, hat man sehr viel gewonnen. Das ist nicht einfach und gerade als direkt Betroffener wird man ohne Hilfe nicht weit kommen.

Das Buch bietet immer wieder Ansätze zu Auswegen, ohne mehr zu versprechen, als es tatsächlich leisten kann. Es betont, wie wirkmächtig narzisstische Dynamiken sind, wie sie manchmal unausweichlich scheinen. Gleichzeit macht der Autor jedoch immer wieder klar, dass niemand, auch die Betroffenen nicht, keine Alternative haben. Gerade mit ihnen geht er respektvoll um, vermeidet Etikettierung – soweit es möglich ist, weicht jedoch auch den Gefahren nicht aus, die in narzisstischen Dynamiken lauern. Das Buch spricht viele an und tut dies ausgewogen, klar, respektvoll und überaus intelligent. In diesem Sinne ist es wirklich eine ‚Handreichung für (fast) alle und jede(n)‘ – zumindest für diejenigen, die das Konzept des Narzissmus für hilfreich halten und nicht andere Unterscheidungen bevorzugen.  

Dennoch steht für mich am Ende die Frage, ob man das Konzept nicht einfach ad acta legen sollte. Das löst die Probleme zwar nicht. Doch es ermöglicht, nicht-essentialisierend über Probleme zu sprechen. Weiter kommen wir vielleicht, wenn wir uns auf Verhalten und dessen Folgen beziehen. Das hat den Vorteil, dass man Verhalten deutlich leichter ändern kann als eine Persönlichkeitsstruktur und dass man Verhalten kritisieren kann, ohne gleich eine Person zu stigmatisieren.

In diesem Sinne ist Eidenschinks Buch vielleicht das beste Buch, das man über ein problematisches Konzept schreiben kann.

 

 

Literatur

 

 

 

Bateson, G. (1963). Bali: The value system of a steady state. In F. Meyer (Hrsg.), Social Structure: Studies Presented to A.R. Radcliffe-Brown (S. 35–53). Russel&Russel.

Eidenschink, K. (2023). Es gibt keine Narzissten! Nur Menschen in narzisstischen Nöten Eine Handreichung für alle und jede (n) (1. Auflage). Carl-Auer Verlag GmbH. https://www.carl-auer.de/es-gibt-keine-narzissten-nur-menschen-in-narzisstischen-noten

Maaz, H.-J. (2012). Die narzisstische Gesellschaft: Ein Psychogramm. C.H. Beck.

Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp.

Watzlawick, P. (2016). Anleitung zum Unglücklichsein. Piper.

 

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