Tiefsinnige Phrasen verdienen unser Misstrauen - insbesondere, wenn sie es in philosophisch angehauchte Actionkracher schaffen: 'Temet nosce' lesen wir die Aufforderung zur Selbsterkenntnis in lateinischer Übersetzung. Sie prangt über der Tür des Orakels der Trilogie 'Matrix'. Der Protagonist der Filme, Neo, möge erkennen, dass er der Auserwählte ist und die Welt zu retten hat. So weit, so einfach.
Finden wir uns jedoch selbst mit dieser Aufforderung konfrontiert, so wird die Sache deutlich komplizierter. "Gnothi seauton" - woher die griechische Maxime ursprünglich stammt, ist nicht abschließend zu klären. Als Inschrift am Eingang zum Orakel von Delphi, wird sie mit Apollon in Verbindung gebracht, dem Gott der Erkenntnis und des Lichts. Zu was aber werden wir genau aufgefordert? Denken wir näher darüber nach, ist dies gar nicht mehr so klar, wie es scheint. Sollen wir unsere Grenzen erkennen? Werden wir aufgefordert, unentdeckte Potenziale zu entfalten? Geht vielleicht möglicherweise beides Hand in Hand? Oder ist Selbsterkenntnis doch etwas anderes, etwas Drittes? Vor allem aber: Wie machen wir das? Wie nur erkennen wir uns selbst?
Dennoch - bei aller orakelhaften Vagheit, scheint Selbsterkenntnis unbestreitbar eine gute Sache. Schafft nicht erst Selbsterkenntnis die Möglichkeit, Ansprüche mit Talenten und Möglichkeiten in Einklang zu bringen? Ist sie nicht Voraussetzung für ein gutes Leben? Die Psychoanalytiker würden von Ich-Syntonie sprechen: Wir sind mit uns selbst im Reinen und akzeptieren uns, wie wir sind. Was für Neo gilt, das gilt mithin für jeden von uns. So zumindest legen es die Filme und auch das delphische Orakel nahe. Warum also sollen wir der Aufforderung misstrauen?
Die Tücke liegt, wie so oft, im Detail – oder, zumindest in diesem Fall, teilweise in der Übersetzung verborgen. Denn Neos Weg zu sich selbst führt keineswegs über den Weg des Erkennens. Schauen wir Matrix, so sehen wir Actionstunt um Actionstunt. Keanu Reeves in der Rolle des Erlösers weicht Kugeln aus, springt über Häuser, läuft Wände hinauf und dergleichen. Er liegt nicht Stunde um Stunde auf der Couch beim Psychoanalytiker und sinnt über sich selbst nach. Die Wachowski-Schwestern sind nicht Woody Allen. Neo kämpft sich seinen Weg gegen allerlei digitale und reale Bösewichte voran und merkt dabei allmählich, was er kann und schließlich auch, wer er ist.
Das Erkennen ist also ein höchst praktischer und ziemlich schmerzhafter Prozess, in dem Grenzen immer neu ausgetestet werden. Erkenntnis, so paradox es klingt, ist nicht Folge eines Erkenntnisprozesses. Fangen wir also an, über uns selbst nachzudenken, so machen wir etwas falsch. Denken ist nicht der richtige Weg. (Zugegebener Maßen legt das griechische 'Gnothi' das Grübeln auch nicht unbedingt nahe, sondern meint eher ein intuitives Mit-Sich-Selbst-Vertraut-Sein. Die Übersetzung ins Deutsche führt in die Irre).
Ähnlich schlecht ist es um den zweiten Teil der Maxime bestellt. Mit sich selbst beschäftigt sich Neo eher wenig. Er lernt über sich selbst, indem über die Welt lernt, in der er ist. So beginnt seine Reise auch mit der Wahl zwischen der roten und der blauen Pille, die symbolisch für die (selige) Blindheit oder die wahre Erkenntnis der Welt stehen. Auf die Einsicht, dass die Welt keineswegs ist, wie er immer dachte, folgt ein langes Trainingsprogramm und immer wieder die Frage: Was tun? Neo nimmt eine unbekannte Rolle in der Welt an und geht an unbekannte Orte. Die Selbstbeschäftigung ist Nebensache und auch kaum möglich, weil es immer irgendwo knallt. Die Maxime müsste also eher lauten: Handle in der Welt.
Nur in der Auseinandersetzung mit der Welt wird er schließlich, wer er ist. Denn der Neo, der er am Ende des Filmes ist (der Auserwählte), ist er am Anfang nicht. Es hat nie einen verborgenen Neo gegeben, der hätte erkannt werden können. Neo ist vielmehr der Auserwählte geworden, weil er es am Anfang des Filmes nicht war. Die Idee, dass er der Auserwählte sei, macht diesen Wandel möglich. Doch gehört hierzu eben auch die Tatsache, dass er sich ändert. Der Prozess ist eher ein Differenzerleben: Ich denke, dass ich jemand sein könnte, der ich nicht bin. Das schafft neue Handlungsmöglichkeiten, die wiederum mich verändern. Das stellt auch das Orakel im letzten Teil der Trilogie fest.
Mit 'Erkenne Dich selbst' ist es also auch in dieser Hinsicht nicht weit her. Man müsste eher sagen: Probiere Dich in der Welt aus und werde, wer Du noch nicht bist. Die Erkenntnis kommt dann schon irgendwann.
Nun ist Matrix ein etwas in die Jahre gekommener Hollywoodfilm. Die Ästhetik ist angestaubt und wohl nur die wenigsten von uns sind Auserwählte, die einen Krieg zwischen Maschinen und Menschen beilegen müssen. Wir haben nicht die Fähigkeit, die digitale Raumzeit zu biegen und Kugeln auszuweichen, die auf uns abgefeuert werden und werden diese auch durch viel Übung nicht erreichen. ‚Matrix‘ ist eben nur ein Film. So scheint in der realen Welt der Weg zur Couch scheint näherzuliegen. Die Möglichkeit, eine rote Pille zu schlucken, und plötzlich vom Nichtwissen in das Wissen katapultiert zu werden, gibt es nicht (wobei neuere Forschungen zu Psychedelika auch diese Vorstellung in Frage stellen).
Dennoch gilt für uns nichts anderes als für Neo. Denn die Suche nach dem innersten Selbst führt nur selten weiter. Fragen wir uns, wer wir wirklich sind, so vermischen sich bei der Suche nach der Antwort meistens Werte und Überzeugungen mit tatsächlichen Beobachtungen. Wir driften ab in Grübeleien und abstrakte Phrasen und verwechseln Sollen und Sein. Wir finden gute Gründe dafür, dass alles so ist und anders sein kann. Wir grübeln über uns selbst, kommen auf Ideen, zweifeln und Grübeln weiter, in der Hoffnung, dass das Grübeln doch irgendwann aus dem Grübeln herausführen sollte.
Denken scheint uns die Lösung, weil wir der Mär vom innersten Selbst verfallen sind. Wir glauben, dass es da irgendetwas gibt, tief unten, dass wir einen sagenumwobenen Kern finden, wenn wir nur tief genug graben. Da ist etwas, sagen wir uns, und wenn wir es entdeckt haben, wird alles gut. Dabei übersehen wir jedoch, dass wir nur sind, durch das, was wir tun. Ändern wir unsere Handlungen und den Kontext, so ändern wir uns selbst.
Die Suche nach der Selbsterkenntnis ist der scheiternde Versuch einer Lösung. Ein Versuch, auf den wir uns vielleicht so gerne einlassen, weil er das Risiko und die Plagen tatsächlicher Veränderung vermeidet. Wir geben uns dem Opium der Selbstbefragung hin. So können wir hoffen, dass alles besser wird, ohne doch etwas ändern zu müssen.
Statt uns also der Selbsterkenntnis zu verschreiben, sollten wir uns der Selbstverkenntnis hingeben. Seien wir zumindestbereit dazu, nicht zu wissen, wer wir sind. Denn wenn wir ein unzureichendes, widersprüchliches Bild von uns haben, können wir noch erfahren, wie wir sein können und wollen. Uns finden wir im Leben, im Ausprobieren, in den Fehlern, die wir machen und von denen wir uns nicht entmutigen lassen.
Gelingt es uns, den Mut zur Selbstverkenntnis aufzubringen, erledigt sich das Problem mit der Selbsterkenntnis irgendwann von Selbst. Denn wer lebt und seine eigene Unfertigkeit umarmt, für den verliert der Orakelspruch die Relevanz. Er zuckt die Schultern und denkt sich: Ein andernmal vielleicht. Ich habe zu tun. Ich lebe.

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