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Wir probieren Lösungen zu erreichen, die nicht möglich sind werfen gute Lebenszeit schlechter hinterher. Ökonomische Theorien können zum besseren Problemverständnis in Therapie und Coaching beitragen und Schritte zur Lösung anbieten.
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Als Therapeut, insbesondere als systemischer Therapeut, greift man auf die unterschiedlichsten Disziplinen zurück. Neben der Psychologie sind das z.B. die Kommunikationswissenschaften, die Soziologie und die Medizin, um nur einige zu nennen. Bei einigen Disziplinen ist der Beitrag selbsterklärend. Bei anderen Fächern ist der Beitrag weniger offensichtlich. Im Falle der Wirtschaftswissenschaften könnte man auf den ersten Blick einen sehr begrenzten Nutzen vermuten. Kapitalmärkte, die Anhäufung knapper Güter - all das scheint kaum übertragbar, wenig nützlich, vielleicht sogar schädlich. Wirtschaftswissenschaften - ist das nicht die Disziplin, die zu immer mehr Beschleunigung und Leistungsoptimierung führt? Ist das nicht das Denken, das uns in Burnout und Entfremdung führt?
Als Therapeut steht man den Wirtschaftswissenschaften eher skeptisch gegenüber. Auch im Executive Coaching geht es immer ein gutes Stück darum, ökonomisches Nutzendenken wenn nicht abzulehnen, so doch zu kontextualisieren. Selbst wenn es um Leistungssteigerung geht, sind wirtschaftswissenschaftliche Theorien im Coaching nicht die Basis, um diese zu erreichen.
Zwei interessante Konzepte
Hin und wieder stelle ich fest, dass es einige Konzepte aus den Wirtschaftswissenschaften gibt, die sehr hilfreich sein können. Das mag daran liegen, dass ich viele Jahre an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten verbracht habe und das vorherrschende Denken auf mich abgefärbt hat. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich viel mit Unternehmern, Beratern und Managern zusammenarbeite, also mit Menschen, die entweder Wirtschaftswissenschaften studiert haben oder sich in einem wirtschaftswissenschaftlich geprägten Umfeld bewegen. Da hilft es, wenn man die gleiche Sprache spricht - wenn auch sicherlich mit unterschiedlichem Dialekt. Aber auch in Fällen, in denen meine Klienten keinen wirtschaftswissenschaftlichen Hintergrund haben, kommen mir immer wieder zwei Konzepte in den Sinn, die sich auch in der Therapie als sehr hilfreich erweisen: Der Sunk-costs-fallacy-Effekt und das Pareto-Prinzip.
Der Sunk-Costs-Fallacy-Effect: Warum wir gutes Geld dem schlechtem hinterherwerfen
Sunk costs (ich übersetze das gerne mit ‚versenktes Kapital‘) sind Fehlinvestitionen. Man hat ein bestimmtes Projekt, ein gewisses Unternehmen einmal für eine gute Investition gehalten und Kapital dafür bereitgestellt. Dann stellt sich heraus, dass es sich um eine Fehleinschätzung handelt. Die Investition hat sich nicht gelohnt. Das Geld ist verloren. Man hat sein Kapital versenkt.
So weit, so gut. Das passiert – nicht nur in der Wirtschaft. Ähnliches trifft uns im Alltag häufig, ohne dass wir von sunk costs sprechen. Wir haben jemanden lange gedatet, vielleicht eine Beziehung geführt, die nicht unseren Erwartungen entspricht. Wir stellen fest, dass unsere Karriere einen Punkt erreicht haben, an es nicht mehr weiter geht. Wir haben unsere Zeit und unsere emotionale Energie (und häufig auch Geld) falsch investiert. Es ist an der Zeit, diese Investition abzuschreiben und neu anzufangen.
Doch so einfach ist das nicht. Denn Menschen sind keine rationalen Akteure. Anstatt uns einzugestehen, dass unsere Investition eine Fehlinvestition war, denken wir, dass wir die Kurve noch kriegen. Die Beziehung wird sich schon noch kitten lassen (es muss sich nur unser Partner ändern). Das mit der Karriere wird schon werden (wenn wir nur lange genug warten, wenn sich die Bedingungen ändern, wenn endlich jemand unser Potential erkennt, wenn wir diese oder jene Zusatzqualifikation bekommen). Wir kultivieren Mechanismen der Hoffnung (Brunsson, 2006) und werfen in der Folge gute Zeit, gute Emotionen und auch gutes Geld den schon versenkten Kosten hinterher.
Das nennt man sunk-costs-fallacy-effect: Weil wir uns nicht einzugestehen vermögen, dass unsere Investition eine Fehlinvestition war, fehlinvestieren wir munter weiter. Wir hoffen und strengen uns an, versuchen den Partner zu ändern oder irgendwie doch noch den Aufstieg zu schaffen – selbst, wenn wir festgestellt haben, dass uns die gewählte Karriere nicht bekommt.
So kultivieren ein Verhalten, das zum eigentlichen Problem wird. Nicht mehr die sunk-costs sind das Problem, sondern unsere Unfähigkeit, uns einzugestehen, dass wir es mit solchen zu haben. Die Symptome können vielgestaltig sein: Von der Essstörung bis hin zur Depression (Jarmolowicz et al., 2016). Der sunk-costs-fallacy-effect beschreibt eine Psychodynamik, die für Coaching und Therapie hochgradig relevant ist.
Vom Pareto-Prinzip: Warum es manchmal besser ist, bestimmte Probleme nicht ganz zu lösen
Eine weitere wirtschaftswissenschaftliche Theorie, die ich immer wieder gerne zitiere, ist das Pareto-Prinzip. Im Management- und Beratungsjargon spricht man auch von 80/20-Regel. Das volkswirtschaftliche Prinzip besagt, dass 80% eines angestrebten Ergebnisses mit 20% des Aufwandes erreicht werden können, während man für die verbleibenden 20% 80% des Aufwandes benötigt. Man nennt das Pareto-Optimum.
Was taugt dieses Prinzip in Coaching und Therapie?
Auf den ersten Blick scheint das Pareto-Prinzip gerade für Menschen sinnvoll, die an ihrem Perfektionismus oder zwanghaftem Verhalten leiden. Einsicht bringt jedoch gerade hier häufig wenig. Wenn man einem mit Menschen mit einer Zwangsstörung sagt, dass 80/20 die deutlich bessere Strategie ist, rennt man in der Regel offene Türen ein (wüssten die Menschen nicht, wo ihr Problem ist, wären sie nicht in Therapie). Ändern tut es nichts.
Interessant wird das Pareto-Prinzip aber an anderer Stelle - nämlich bei der Formulierung von Therapiezielen. Nicht wenige Menschen kommen mit der Erwartung, dass ihr Symptom zu 100 Prozent verschwinden soll. Ich will nie wieder Angst, Depression oder Wutanfälle haben. Ich stelle oft die Frage, wie viel Prozent ihrer Symptomatik meine Klienten behalten wollen und stoße damit nicht selten auf Unverständnis. „Gar nichts!“ ist nicht immer die Antwort.
Dann bringe ich ab und zu das Pareto-Prinzip ins Spiel: „Wenn sie mit 20 Prozent der Energie 80 Prozent des Problems lösen können“, frage ich, „und für die letzten 20 Prozent brauchen sie 80 Prozent der Energie - wie viel von ihrem Problem wollen sie dann behalten?“
Das bringt die Leute meistens zum Nachdenken und nur wenige bleiben bei ihren 100%. Meistens sind 90% völlig in Ordnung.
Das hat mehrere Vorteile. Zum einen haben meine Kunden ein entspannteres Verhältnis zu ihrem Problem. Sie sehen es weniger in Entweder-oder-Kategorien, sondern eher in einer graduellen Skala.Das führt dazu, dass auch kleine und schrittweise Veränderungen begrüßt werden.Der Blick richtet sich von der Soll- auf die Habenseite (betriebswirtschaftlich gesprochen).
Damit einher geht in der Regel eine höhere Selbstakzeptanz. Selbst wenn man sich entscheidet, nur 5% oder gar 1% zu behalten, entwickelt man eher ein Selbstbild, in dem man mit dem Problem in Ordnung ist.
Es muss nicht mehr generell ‚weg‘ sein. Es muss nur im Ausmaß reduziert werden.
Schließlich haben meine Klienten die Möglichkeit, Kontrolle über ihr Problem zu gewinnen.
Wenn sie es vorher als etwas erlebt haben, das sie überfällt, dem sie ausgeliefert sind, dann gibt es jetzt zumindest einen Teil des Problems, für den sie sich aktiv entscheiden. Wenn man sagt: 1% darf bleiben, dann ist zumindest dieses 1% plötzlich selbst gewählt, willkürlich. Das färbt auf die anderen 99% ab.
Das Pareto-Prinzip ermöglicht es also, die Beziehung zum Problem zumindest ein wenig zu verändern. Aus einer harten, konfrontativen Situation wird eine weiche, weniger binäre und konfrontative Situation. Der Klient kämpft nicht mehr so hart mit seinem Problem. Da aber viele Probleme ihre Macht gerade daraus beziehen, dass sie so hart abgelehnt und bekämpft werden, verliert das Problem seinen alles beherrschenden Status.
Wahr oder falsch - relevant für Therapie und Coaching?
Der Sunk-costs-fallacy-Effekt und das Pareto-Prinzip sind nur zwei Beispiele, in denen Theorien, die eigentlich nichts mit Therapie zu tun haben, sehr sinnvoll angewendet werden können. Dabei geht es gar nicht darum, ob sie wissenschaftlich korrekt auf die genannten Situationen übertragbar sind.
Gerade das Pareto-Prinzip trifft im therapeutischen oder beraterischen Kontext häufig nicht zu. Zwar gibt es viele Fälle, in denen man am Anfang viele Quick Wins hat, die Verbesserung dann aber deutlich mühsamer wird und die letzten 10-20% kaum noch zu erreichen sind. Es gibt aber auch Fälle, in denen lange nichts passiert und dann alles ganz schnell geht.
Es gibt Fälle, in denen nicht einmal die 80% erreicht werden. Dann gibt es wieder Fälle, in denen die 100% durchaus erreichbar sind.
Die Theorie ist also nicht einfach übertragbar.
Aber es macht Sinn, so zu tun, als ob. Denn das Als-Ob bringt uns oft weiter als eine in alle Richtungen abgezirkelte Wahrheit (die im Sinne des Popperschen Falsifikationsprinzips auch nur eine begründete Hypothese bleibt). Es kommt nicht darauf an, ob eine Theorie wahr ist. Es kommt darauf an, ob sie in der gegebenen Situation einen produktiven Unterschied macht.
Eine ungesicherte Theorie ist dann deutlich besser als eine noch so gesicherte Theorie, die zu keiner Veränderung führt. Konstruktivistisch wie pragmatisch könnte man sogar argumentieren, dass die Wahrheit einer Theorie in ihrer Tragfähigkeit oder Nützlichkeit liegt. Bringt sie uns dorthin, wo wir hin wollen? Wenn dem so ist, haben die Wirtschaftswissenschaften einige Theorien zu bieten, die auch in der Therapie sehr wahr sein können.
Literatur
Brunsson, N. (2006). Mechanisms of Hope. Copenhagen Business School Press.
Jarmolowicz, D. P., Bickel, W. K., Sofis, M. J., Hatz, L. E., & Mueller, E. T. (2016). Sunk costs, psychological symptomology, and help seeking. SpringerPlus, 5(1), 1699. https://doi.org/10.1186/s40064-016-3402-z
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